Prostitution 2017 – Literatur-Tipp – Kennen Sie den heiligen Skarabäus?
Zur inhaltlichen Abwechslung einmal ein Literaturtipp für die Freundinnen und Freunde ausgewählter Literatur: bei einer Artikel-Recherche zum Thema „Prostitution“ (wie könnte es anders sein), bin ich auf ein vermeintliches Skandal-Buch aufmerksam geworden, das von Literaturkennern als eines der maßgeblichen Werke im Bereich der „Prostitutionsliteratur“ gilt
und ein recht extremes Sittengemälde der Wiener Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeichnet, wo promiske Lasterhaftigkeit und Vergnügungssucht, ähnlich wie heute (?), weit verbreitet waren und wo man auf der Suche nach persönlichem Lustgewinn moralische Grenzen übertrat und auch vor strafbaren Handlungen nicht zurückschreckte.
Else Jerusalem: „Der heilige Skarabäus“ von 1909
Else Jerusalem´s Buch „Der heilige Skarabäus“ ist ein „Unsittenroman“, der vorwiegend im sogenannten „Rothaus“ spielt, in einem Etablissement, das sich im Fortlauf der Geschichte von einer schäbigen Absteige zu einem vornehmen Salon (Bordell) entwickelt und dann später wieder einen Niedergang erlebt. Im Salon mit der „blutroten Laterne“ vergnügt sich das Bürgertum geradezu maßlos: Mädchenhandel und Schieberringe sind ebenso Thema, wie gesellschaftliche Doppelmoral. Mädchen vom Land werden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in das „Rothaus“ gelockt, ihrer „Bestimmung“ zugeführt, während die korrupte Polizei wegschaut oder sogar mitmischt.
Der heilige Skarabäus: Ein Käfer, der ein Symbol für die Auferstehung und den Gang der Sonne ist!
Milada, die Tochter einer Hure, ist die Hauptperson des packenden Romans. Sie wurde als uneheliches Kind im Bordell geboren, wuchs dort auf und war schon als Kind mit den sehr merkwürdigen Abläufen im Haus konfrontiert. Für sie ist das, was sie erlebt, irgendwann völlig normal, weil sie ja keine anderes Zuhause kennt. Unsitte und Anrüchigkeit nimmt sie nicht wahr und Prostitution ist in ihrer Betrachtung ein völlig normaler Beruf. Sie ist sogar stolz auf ihre „vielbegehrte Mutter“, die eines der besten „Pferde“ im Stall ist und von den Freiern gefeiert wird. Als Heranwachsende hat Milada dann außerhalb des Bordellbetriebs Erlebnisse und Begegnungen, die sie langsam aber sicher an der „Normalität“ des Gewerbes zweifeln lassen. Milada liest Marx, Büchner und Bebel und entwickelt sich zu einer intelektuellen Betrachterin der Szenerie. Die Autorin Else Jerusalem und ihre Romanfigur verschmelzen an dieser Stelle und es folgen Schilderungen und Abstraktionen, die ein neues Bild zeichnen und wo der „Glorifizierung“ eine Betrachtung des „glanzlosen Elends der Dirnen“ folgt. Dabei geht es nicht um reine Schwarz-Weiss-Zeichnung, sondern auch um die Grautöne, die das Gewerbe prägen und die unsere Autorin trefflich schildert!
Interessant ist auch die Betrachtung der Geschäftsmodelle, die von der Autorin intensiv geschildert werden: im Prinzip hat sich seit 1900 (um diese Zeit spielt der Roman) wenig geändert: das Rothaus wird wie ein heute übliches Laufhaus geführt, wo Tagesmieten erhoben werden und wo sich Charaktere tummeln, die auch heute noch ähnlich agieren.
Im Roman lernt man Prostituierte aller Couleur kennen, man trifft auf Freier, Dichter und Denker, die manchmal alles in Personalunion sind und man wird in einen packenden Reigen miteinbezogen, der eben manchmal eskaliert. Auch die Schilderung der wechselnden Bordellbetreiber(innen) hat es in sich: die eine, die davon ausgeht, dass Frauen „zur Lust des Mannes geborenen“ seien, trifft auf ihre fromme Nachfolgerin, die zwar Prostitution für schmutzig befindet und verachtet, aber dennoch dann das eingenommen Geld des Abends mit „weihrauchgereinigten Fingern“ genüsslich zählt. Ein wenig Bigotterie kann ja nicht schaden und das auch der Polizeihauptmann gerne Spenden nimmt, verwundert gar nicht. Eine weitere Betreiberin des Rothauses führt sogar die „Kinderprostitution“ ein, weil sich damit eben deutlich mehr Geld verdienen lässt und sie erklärt es der Kundschaft mit dem verwegenen Spruch: „Rindfleisch müssen Sie teurer zahlen“. Spätestens an dieser Stelle wird es inhaltlich drastisch und die Lektüre ist nichts für allzu schwache Gemüter!
Nun ist es einfach unmöglich, den genauen Inhalt eines 620-Seiten-Romans in Kurzform zu erzählen. Die Handlung spielt über mehrere Jahrzehnte und wenn man kein Detail verpassen möchte, muss man das Werk sicher sogar mehrfach lesen. Ich finde es interessant, wie aktuell der historische Roman ist und wie wenig sich im Gewerbe wirklich geändert hat. Man könnte die Handlung, mit wenigen Änderungen, als Schauspiel in die Neuzeit übertragen und müsste die meisten Dialoge dabei nur unwesentlich abändern.
Wie schreibt dazu ein bekannter Literatur-Kritiker:
Jerusalem hat mit dem heiligen Skarabäus einen Bordell-Roman über das glanzlose Elend der Prostituierten vorgelegt, der alle seinesgleichen weit hinter sich lässt und auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner Bedeutung eingebüßt hat.
Mögen Sie Literatur der etwas schrägen Art und sind Sie nicht zu zimperlich? – Dann empfehle ich Ihnen Else Jerusalem´s Werk sehr herzlich. Weiter Informationen finden Sie dazu bei Amazon, wo das Buch auch bestellbar ist: